75 Jahre Ideen für Miniaturwelten

1946 ist es düster in Deutschland. Doch in der Zeit unmittelbar nach dem Alptraum des Zweiten Weltkrieges und des Dritten Reiches entstehen trotz der Dunkelheit neue Ideen voller Optimismus. Zum Beispiel in Stuttgart. Dort sitzen zwei Brüder zusammen, um darüber nachzudenken, wie ihre Zukunft aussehen könnte. Der eine hatte die letzten Jahre in einem Rüstungsbetrieb verbracht, der andere bei Bosch in Stuttgart. Beide stehen wie viele ihrer Zeitgenossen vor einer großen Leere. Also machen sich Hermann und Edwin daran, diese zu füllen. Gemeinsam entwickeln sie einen – zur damaligen Zeit der Not – verwegenen Plan: fortan wollen sie kreatives Spielzeug entwickeln. Nicht irgendein Spielzeug, sondern kleine Gebäude, die Kinder frei zu eigenen Welten arrangieren können – so wie jener Miniatur-Bauernhof aus Holz, den Hermann damals seiner Tochter gebaut hat. Man könnte dieses Vorhaben vermutlich auch als Weg beschreiben, die allgegenwärtigen Zerstörungen zumindest im kleinen Maßstab spielerisch zu überwinden und Kindern neue Perspektiven zu eröffnen.

Aller Anfang ist schwer – aber spannend

Noch im gleichen Jahr gründen die beiden Brüder ihr Unternehmen. Unter dem Namen „Hermann Faller“ startet die Herstellung kleiner Häuser – aus Holz und bedrucktem Karton, alles in Handarbeit. Im gleichen Jahr zieht die kleine Firma nach Gütenbach in das elterliche Haus um, in dem sich eine Werkstatt unterbringen lässt. Dort reift der Plan, einen modularen Baukasten mit vorgefertigten Platten anzubieten, aus denen sich immer wieder neue Gebäudestrukturen auf- und abbauen lassen. Mit einer detaillierten Anleitung und inspirierenden Vorschlägen versehen, kommt dieses erste Spielzeug aus dem Hause FALLER unter dem Namen „Marathon“ in den Spielwarenhandel und verschafft den beiden Newcomern einen ersten Achtungserfolg.

Parallel produziert das inzwischen in „Gebr. FALLER Spielwaren“ umbenannte Unternehmen Dinge für den täglichen Gebrauch. Kämme aus Buchenholz zum Beispiel, aber auch Topfuntersetzer. Damit, so das Kalkül, schaffe man einen sicheren Grundumsatz, denn Spielzeug ist damals nur für wenige Menschen erschwinglich.

Wie richtig die beiden Fallers liegen, wird schon 1948 schmerzhaft deutlich. Die Währungsreform lässt den dünnen Spielzeug-Markt schlagartig einbrechen, die beiden Jungunternehmer müssen alle Mitarbeiter entlassen und Umsätze abschreiben. Hermann und Edwin satteln auf hölzerne Wäscheklammern um, verlieren ihre Grundidee aber nie aus dem Blick.

Die Modellbahn-Connection

Auch in der schweren Krise tüfteln die Brüder weiter am Konzept des Spielzeug-Hauses und entdecken 1949 in der Modelleisenbahn einen Verbündeten. Eine Modelleisenbahn, schlussfolgern die beiden, kommt erst richtig zur Geltung, wenn sie nicht nur aus Gleisen, Weichen und Zügen besteht, sondern mit passenden Gebäuden und landschaftlichen Elementen in Szene gesetzt wird. Dieser Erkenntnis folgend, beginnt die Entwicklung von Bahnhöfen, Stellwerken und Güterschuppen für die Spur H0, zunächst in Form von schlichten Fertigmodellen.

Der Durchbruch kommt 1950: auf der Nürnberger Spielwarenmesse präsentiert das Unternehmen gleich zehn vorbildnahe Modellbauten und einen selbst konstruierten Mini-Bürstenmotor. Obwohl nicht sichtbar, sorgt dieser für großes Aufsehen, animiert er doch die neue Windmühle und die Wassermühle, dreht Flügel und das Wasserrad. „Damals hat man den Nerv der Zeit exakt getroffen“, so der heutige Geschäftsführende Gesellschafter Horst Neidhard. Der Markenkern ist gelegt: Emotion, Vorbildtreue, Überraschungselemente – das steht auch heute noch für FALLER.

Vom Klein- zum Industrieunternehmen

Trotz der bescheidenen Anfänge versteht man sich in Gütenbach schnell als Industrieunternehmen mit hoher Innovationskraft. So erkennt man frühzeitig das Potenzial des Kunststoff-Spritzgusses, der eine bessere Detaillierung der Modelle, höhere Stückzahlen und für die Verbraucher niedrigere Preise verspricht. 1954 gehört FALLER zu einem der ersten Unternehmen im Südwesten Deutschlands, das auf diese neue Produktionstechnik setzt.

Schon im selben Jahr bringt FALLER das erste, in diesem Verfahren gefertigte Modell auf den Markt, eine Viaduktbrücke, deren Quadermauerwerk ganz dem historischen Original entspricht. Die Brücke läutet in doppelter Hinsicht eine neue Ära ein, denn sie ist auch der erste Bausatz. Damit wird nicht nur das Modell verkauft, sondern auch der Bastelspaß, das Bauen wird zum Erlebnis schlechthin.

Die beiden Faller-Gründer ergänzen sich bei ihrer Arbeit ideal: „Während der technikaffine Hermann sich um die technische Seite kümmerte, war Edwin Faller der betriebswirtschaftliche Macher und rühriger MarketingMann“, resümiert Horst Neidhard. 1958 lässt Edwin Faller den ersten Farbkatalog drucken, 1959 wird in Gütenbach neu gebaut, natürlich im industriellen Maßstab. In den 1960er-Jahren erlebt FALLER eine „Ideenexplosion“, so Horst Neidhard. Die Autorennbahn „AMS“ wird geboren, die Spur N ins Programm aufgenommen. Ein Erfolg jagt den anderen, 1976 umfasst der Katalog 473 Produkte.

Konzentration und Rekorde

In den 1980er-Jahren bremst ein neues Phänomen die Erfolgsgeschichte des Unternehmens. Im Markt macht sich Preisdruck bemerkbar, ausgelöst durch preiswerte Fertigungsmöglichkeiten in Fernost. Im Gegensatz zu vielen Mitbewerbern verlagert FALLER seine Produktion nicht und bleibt dem Standort Schwarzwald treu. Der unter Druck geratene Spielzeugbereich muss dennoch aufgegeben werden, die „AMS“ ist damit Geschichte. Man konzentriert sich wieder auf den Kern, den Modellbau und lanciert 1988 die Produktreihe „Car System“, eine echte Innovation mit selbstfahrenden Autos und Steuerungselementen für den Straßenverkehr. Das Kerngeschäft läuft prächtig, 2003 freut sich das Unternehmen über einen Rekordumsatz und über 1.500 Modellbauartikel im Sortiment.

 

Die schleichende Krise

Bereits 1982 verstirbt Hermann Faller, sein Bruder Edwin zieht sich 1986 aus der Leitung des Unternehmens zurück. Nach und nach werden Defizite erkennbar, die lange von der großen Nachfrage überdeckt waren. Enorme Pensionsverpflichtungen belasten die Entwicklungsfähigkeit des Unternehmens. „Die Innovationskraft war geschwächt, das Controlling veraltet, die Unternehmenszahlen wenig transparent und neue Projekte blieben zusehends liegen“, so Horst Neidhard. Eine allgemeine Marktkrise der Modellbahn-Branche trifft das Unternehmen hart. „In vier Jahren brach der Umsatz um 40 Prozent ein. Um diesen Verlust aufzufangen, war die Kapitalausstattung des Unternehmens zu gering.“ Was letztlich dazu führt, dass FALLER inmitten der notwendigen Sanierung Insolvenz anmelden muss.

Neue Perspektiven

Eine Traditionsmarke wie FALLER mit seiner enormen Strahlkraft, der begeisterten Fangemeinde und seinen langjährigen, hervorragenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern soll nicht so einfach verschwinden. 

2010 steigen Horst Neidhard, der Schwiegersohn der Tochter des Firmengründers Hermann Faller, seine Frau und sein Bruder als Neugesellschafter in das Unternehmen ein. Zusammen mit seinem Team aus erfahrenen und neuen Mitarbeitern gelingt es Neidhard als Geschäftsführer, das Unternehmen aus der Insolvenz heraus neu zu starten. „Es galt, die 2006 entwickelte und bereits in Teilen begonnene zukunftsfähige Strategie weiter zu verfolgen, den spannenden Markenkern in die Zukunft zu übersetzen und die Neuerungen in Vertrieb und Marketing umzusetzen.“

In der Folge werden neue Fertigungsverfahren eingeführt, neue Produkte entwickelt und die emotionale Seite des Modellbaus betont. Denn „Modellbau ist kreativ, hat mit Technik und Geschichte zu tun, ist entschleunigend, generationsübergreifend und fassbar“, sagt Horst Neidhard. Modellbau als Gegenpol zum immer schneller und digitaler werdenden Alltag? „Auf jeden Fall, seit 2010 entwickeln wir uns stetig nach oben.“ Das heißt nicht, dass FALLER die Digitalisierung aussperrt – im Gegenteil. Das „Car System Digital“ basiert darauf, auch steuern mittlerweile Platinen jedes neue Funktionsmodell, digital bedruckte Einzelteile verschönern eine Vielzahl an Modellen. Und das 2019 eingeführte Angebot „FALLER CREATE“ ist komplett digital: der Kunde entwirft mit dem Online-Tool am Rechner sein individuelles Wunschmodell, das dann von FALLER per 3D-Druck produziert wird. „Wir stehen heute im Wettbewerb zu einer riesigen Freizeitindustrie, da geht es auch um die gefühlt immer knapper werdende Ressource der Menschen, um die Zeit.“ Innovation bekommt also eine neue Dimension, es geht dabei nicht nur um die Produktebene, sondern um das Schaffen positver Erlebnisse. „Wir verstehen uns als Ideenaufnehmer und Ermöglicher, wir entwickeln Produkte, mit denen unsere Kunden ihre ganz eigenen Vorstellungen erfolgreich umsetzen können. Die Produkte sollen die Fantasie anregen, das Basteln und Spielen zum Erlebnis machen.“ Damit folgt FALLER auch heute, 75 Jahre nach der Gründung, ganz den Intentionen von Hermann und Edwin Faller.

75 plus – Die Zukunft

„Wir fokussieren uns weiter auf den Modellbau und werden all jenen etwas anbieten, die sich in diesem Hobby wiederfinden. Das muss übrigens nicht zwingend mit einer Modellbahn gekoppelt sein, auch reine Dioramen sind sehr spannend.“ So wird „FALLER CREATE“ konsequent in Richtung Individualisierung weiterentwickelt, mit neuen Möglichkeiten erweitert und damit zum zentralen Angebot für alle, die Spaß an der Gestaltung ihres Unikats haben. Auch beim „Car System Digital“ werden fortlaufend technische Innovationen Eingang finden, sei es in Richtung Miniaturisierung oder kabelloser Steuerungs-Hardware.

Und natürlich werden immer wieder neue, faszinierende Modelle erdacht, neue Accessoires für die Landschaft und neues technisches Zubehör für die Belebung der Anlage mittels Bewegung, Licht oder Akustik. „Unternehmerisch beschäftigt uns das Nachhaltigkeits-Thema enorm.“ Eher früher als später will FALLER ein klimaneutrales Unternehmen werden, was interne Prozesse wie auch das Produktportfolio einschließt. „Wir denken da insbesondere an den vermehrten Einsatz von Recyclaten, neuen Verpackungen und implementieren das Umweltthema direkt in die Produktentwicklung.“ All dies, so betont Horst Neidhard, bleibe in Gütenbach verankert, denn „hier haben wir ein Netzwerk aus langjährigen Partnern, kurze Wege und können schnell reagieren. Nur wenn Entwicklung und Produktion Hand in Hand arbeiten können, stimmt das Ergebnis.“

Faller ist zu seinem 75-jährigen Jubiläum besser aufgestellt denn je, mit einem Schatz an neuen Ideen, neuen Konzepten. Selbst die Corona-Pandemie konnte dem Unternehmen bislang nichts anhaben – im Gegenteil: „Viele Menschen haben in der Zeit der Krise das Modellbau-Hobby wiederentdeckt.“